(299) Letzte Dinge
(In dieser Stafette wirft der nach British Columbia (CAN) ausgewanderte Heinz Tock einen Blick zurück. Die Beiträge “Per Taxi auf Zeitreise durch die Autostadt Biel” hat Heinz Tock als junger Student und Taxifahrer aufgezeichnet).
Ein sonniger Samstagmorgen, Hochsommer. Mein Vauxhall steht in Position 2.
Der Zug aus Zürich wird in ein paar Minuten eintreffen. Es lohnt sich nicht, ein Buch in die Hand zu nehmen.
Gestern hiess der Chasseral “Gestler”
Einer der ersten, die aus dem Bahnhof strömen, ist ein älterer hagerer Mann.
Er trägt Knickerbocker, Windjacke, Wanderschuhe und ein Béret. Rucksack und Hakenstock vervollständigen das Bild.
Er geht zum ersten Taxi und spricht mit dem Fahrer. Dann kommt er zu mir. Der Kollege welscher Zunge verstehe ihn nicht, ob ich ihm helfen könne. Er spricht ein gepflegtes Hochdeutsch mit einem leichten Akzent.
Er wolle auf den “Gestler”, aber nicht dorthin gefahren werden. Es gebe, so hätte ihm jemand gesagt, ein Restaurant, von dem aus man relativ bequem auf diesen Berg wandern könne.
Ausblick vom Chasseral auf die Alpenkette
(Bild: casseral-hotel.ch)
Ich glaube zu wissen, wovon der Mann spricht. Er meint wohl den “Mittleren Bielberg”.
Und mit dem “Gestler” meint er den 1600 Meter hohen “Chasseral”. Im Seeland kannte man zu meiner Zeit die deutschen Namen noch.
Der Mann steigt ein, und wir fahren los. Er plaudert.
Geboren ist er in Lidice in der Tschechoslowakei. Ich erfahre, dass er den Jahrgang meines Grossvaters hat, 1884. Er ist also in diesem Jahr 74.
Als die Deutschen in die Tschechoslowakei einmarschierten und das Protektorat Böhmen-Mähren errichteten, hatte er mehr als nur gemischte Gefühle. Zwar war er Volksdeutscher, aber Jude.
Alle Tränen sind schon geweint
Seine Befürchtungen erwiesen sich rasch als begründet. Er wurde sofort verschleppt und begann seinen Marsch durch verschiedene Lager. Als sein Heimatdorf 1942, nach der Liquidation Heydrichs dem “Henker von Prag” dem Erdboden gleichmacht und die ganze Bevölkerung ermordet wurde, war er schon in Auschwitz.
Unerwartet wurde mein Fahrgast nach dem KZ Dora (später Mittelberg genannt) überstellt. Irgend jemand war in seiner Akte auf den Vermerk gestossen, dass er vor dem Kriege Flugzeugmechaniker gewesen war.
Seine Schicksalsgenossen, welche den Tunnel unter erbärmlichsten Arbeitsbedingungen erweitern mussten, stammten zumeist aus dem KZ “Buchenwald”.
Er musste mithelfen, die V2 zu bauen. Irgendwie hatte er überlebt. Seine ganze Familie, Gattin, Kinder, Enkel, die betagte Mutter, alle wurden von den Deutschen, seinen Volksgenossen, ermordet. Er sagt dies völlig emotionslos. Nach der langen Zeit ist dies einfach eine Tatsache. Alle Tränen, die er einmal hatte , sind geweint.
Zurück blieben die körperlichen und seelischen Narben - und die Nummer von Auschwitz auf seinem Arm…
Der Traum
Doch zurück in die friedliche Zeit der Fünfzigerjahre in der heilen Schweiz. Er hatte all die Jahre einen Traum gehegt. Ein Kamerad in einem der Lager hatte in den Dreissigerjahren im Berner Jura gearbeitet. Dieser hatte ihm von den Jurahöhen und eben von diesem “Gestler” und der Wanderung berichtet.
Nun wollte er vom mittleren Bielberg auf den “Chasseral” wandern, dort übernachten und anderntags über Nos und Prägelz nach Twann hinunter steigen.
Auf dem Mittleren Bielberg angekommen, bezahlt er für die Fahrt. Ich will von ihm kein Trinkgeld; er lässt sich auch gerne von mir zu einem Bier einladen.
Kurierauftrag für einen Toten
Ich hätte wohl nicht geglaubt, wenn mir jemand gesagt hätte, dass dieser Tag mit seinen makabren Themen am gleichen Tag eine Fortsetzung haben werde.
Ich stehe nach der Bergfahrt und verschiedenen Fahrten in der Stadt wieder am Bahnhof. Die Reihe ist an mir.
Da kommt eine Frau und bittet mich, ein Couvert zuzustellen. Ich bin etwas überrascht. Einen solchen Auftrag hatte ich noch nie erhalten.
Die Adresse lautet: Monsieur N.N. Crématoire Bienne. Par Courrier.
Ich zögere etwas. Wie soll ich das verrechnen? Ich solle doch einfach schätzen, was die Fahrt koste. Das mache ich nach bestem Wissen und fahre los.
Beim Krematorium suche ich den Eingang und jemanden, dem ich den Brief übergeben kann.
Ich rufe und ein Angestellter kommt, nachzusehen, was los ist.
Er schaut auf das Couvert und dann auf mich.
Ich könne mitkommen und dieses selber abgeben. Neugierig folgte ich dem Angestellten. Wir gehen durch eine Türe und ich erkenne, dass ich nun echt “im Krematorium” bin.
Da stehen die Öfen. Er zeigt auf einen davon und erklärt mir, dass Monsieur N.N. gerade auf seiner letzten Reise ist.
Ich habe dabei absolut nicht den Eindruck, der Mann mache sich über etwas lustig. Er öffnet das Couvert und entnimmt ihm die Karte. Er verspricht, er werde diese dem Feuer übergeben.
Leichtigkeit, nicht mehr Beklemmung
Ich hatte noch viele Fragen und konnte in die Öfen schauen. Er zeigte mir, wie die verbrannten Knochen von grösseren, erkennbaren Stücken gereinigt und dann in die Urne gegeben werden.
Da war es, dass ich dieses komische Gefühl, das wir wohl alle haben, wenn es um die “letzten Dinge” geht, weitgehend verlor.
Ich konnte mir gut vorstellen, diese Reise durch das Feuer selber anzutreten.
Und heute, wo die Strophe des Studentenliedes: “Wenn in den Abendmatten dein Weg sich sacht schon niederneigt, von West die Schar der Wolkenschatten schon vor das Blau des Tages steigt….”, hoch aktuell ist, bin ich darüber froh.
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16.02.2010 14:59
Sehr geehrter Herr Tock
Mit viel Vergnügen habe ich Ihre Erzählungen gelesen. Ich fühlte mich grad zurückversetzt nach 1988/89 als ich einer Ihrer Studenten an der Ingenieurschule Biel gewesen bin.
Sie haben damals unsere Math-Stunden aufgelockert mit Erlebnisberichten aus den USA und aus Südafrika. Spannend, witzig, kritisch und stets überaus unterhaltsam. Und mitunter gaben Sie auch Lebenstipps mit auf den Weg, die mein Wissen über Ableitungen, Schaum-Buch, Differentialgleichungen und Integrale längst überlebt haben.
Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie heute Geburtstag. Stimmt’s? Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zum 75. und wünsche Ihnen alles Gute.
Herzliche Grüsse
Daniel Müller