(295) Sturm und Drang im Vauxhall
(In dieser Stafette wirft der nach British Columbia (CAN) ausgewanderte Heinz Tock einen Blick zurück. Die Beiträge “Per Taxi auf Zeitreise durch die Autostadt Biel” hat Heinz Tock als junger Student und Taxifahrer aufgezeichnet).
Selbst ist der junge Mann
Eine Wochentagschicht, es ist der 1. Juni 1958; sechs bis ein Uhr. Sieben Stunden, vierzehn Franken. Hinzu kommt etwas Trinkgeld. Das Geld ist hochwillkommen.
Ich habe zuhause Kost und Logis, will aber für meine Lebenshaltungskosten sonst selber aufkommen. Und ich kann Autofahren! Zuhause haben wir kein Auto; die wenigsten Arbeiter oder kleinen Angestellten können sich so etwas 1958 schon leisten.
Ein “Käfer” kostet um die 4500.- , also rund einen Brutto-Jahreslohn. Noch vor ein paar Jahren, als der erste Stadtpolizist mit einem Auto aufkreuzte, musste er beim Polizeidirektor antraben und erklären, wo er das Geld her hatte. Der Gemeinderat wollte sicher gehen, dass der Mann nicht etwa “Schutzgeld” angenommen hatte.
Vauxhall
Der “Lumpensammler” (der letzte Zug) von Bern bringt mir einen Fahrgast, der nach Ipsach will.
Das Leben ist schön
Es ist eine wunderschöne Nacht, Vollmond.
Manchmal plaudert ein Fahrgast, manchmal gibt einer zu erkennen, dass ich plaudern solle. Dieser hier ist still und zufrieden, also fahre ich ihn schweigend zu seinem Fahrziel.
Ich beschliesse, unten am See statt der Hauptstrasse entlang zu fahren.
Das Fahrverbot für Motorfahrzeuge mit Ausnahme von landwirtschaftlichen Fahrzeugen steht am Rande der Strasse und behindert mich in keiner Weise.
Das Leben ist schön, oder, wie das der kleine Flüchtling Janos Kalmann aus Ungarn in einem Aufsatz schrieb: “Der Welt ist so schein!”
Nun, in dieser “scheinen” Welt stört mich nur eines: Das rote Licht, das vor mir auf und ab zu tanzen beginnt.
Im Scheinwerfelicht erscheint die unschwer erkennbare Gestalt eines Kantonspolizisten. Er schaltet seine Taschenlampe auf gelbes Licht um.
“Gueten Abe, Uswyskontrolle bitte!” (Guten Abend, Ausweiskontrolle bitte)
Ich reiche ihm Führer- und Fahrzeugausweis. Er fragt nach dem Woher und Wohin.
Vauxhall
Polizist gibt persönlich Nachhilfe
Ob mir unterwegs nicht etwas aufgefallen sei, fragt er dann. Ich zögere ein wenig, da hilft er nach: “So eine Metallstange mit einem runden Schild, weisser Grund mit rotem Rand und rotem Querbalken mit einem Auto und einem Motorrad aus den Dreissigerjahren.”
Ich gebe das zu, und er stellt ein paar weitere Fragen. Aha, am Tech sei ich. In welcher Abteilung. So, Maschinenbau. Sein Sohn sei in der Lehre als Bauzeichner und wolle im nächsten Jahr ein Studium an der Bauabteilung beginnen.
Bauabteilung, also Abteilung für Architektur. Das bekannte Trio: Die Dozenten Meier, Hefti, Sager. Die Abteilung, wo der Architekt Mäder sein Rüstzeug mitbekommen hat und dann das Kongresshaus und das neue Verwaltungsgebäude der Sportschule baute.
Nun, ich nehme nicht an, dass dieser Polizist mit mir zu nachtschlafener Zeit die Architektur von Biel und Umgebung diskutieren will.
Ich warte also ab. Nach einigem Zögern gibt er mir die Ausweise zurück und sagt: “Wenn mer jetz no us däm “Vauxhall” a “Hürlima” chönnte mache, wäre mer übere Bärg…” (Wenn wir jetzt noch aus dem Vauxhall einen Hürlimann - eine Schweizer Traktorenmarke - machen könnten, wäre die Sache erledigt).
Ich hüte mich, auch nur ein Wort zu sagen.
Dann, zu meiner riesigen Erleichterung: “Für hüt wei mers bin ere Verwarnig la blybe. Z’nächscht Mol… ” (Für heute wollen wir es bei einer Verwarnung bleiben lassen. Nächstes Mal…) lässt er offen.
“Gueti Fahrt und guet Nacht.”
“Guet Nacht - und merci vielmal”
Uff, zwanzig Franken gespart!
Singen macht durstig
Warum ich mich an das Datum so gut erinnere?
Eine Woche zuvor hatten wir Singstudenten nach dem Ãœben eine kleine “Kneipp” gefeiert. Beim Tech war ein Bauplatz; man baute den Anbau für die automobil-technische Abteilung. Wir hatten eine oder zwei Kisten Bier, machten ein Feuer und einen “Saukrach”. Es war abzusehen, dass die Anwohner oben am Hang keine Freude haben würden, so stellten wir eine “Wache” auf die Strasse. Der Polizeiposten ist ja nur ein paar Schritte entfernt.
So gegen 23h, ich war an der Reihe zu wachen, sah ich sie im letzten Moment heranpirschen. Ich rief: “Si chöme!” und die Rasselbande rannte ins Hauptgebäude. Ich lief durch den Bauplatz, die Hermandad dicht auf den Fersen.
Rasch versteckte ich mich unter einer Baubaracke. Aber die Stadtpolizisten gaben nicht so schnell auf.
Zwar durften sie nicht in das Gebäude ohne richterlichen Befehl, es ging ja hier nicht um Mord und Totschlag, aber sie suchten mich. Und sie fanden mich. Eine Taschenlampe blendete mir ins Gesicht und als ich gar sah, dass einer der Polizisten seine Pistole in der Hand hielt, kam ich rasch unter der Baracke hervor.
Man kannte damals noch keine Handschellen als Teil der Polizeiausrüstung; es genügte, wenn man jemandem sagte: “Dir chömet mit!” (Sie kommen mit!)
Auf dem Posten nahm man meine Personalien auf und dann konnte ich gehen.
Feiern ist kostbar
Am Tage meiner oben beschriebenen Taxifahrt hatte ich das Strafmandat erhalten:
“Wir teilen Ihnen mit, dass gegen Sie eine Anzeige eingegangen ist wegen Nachtlärms, begangen in der Nacht vom 22./23.5.1958.
7.- Busse, im Falle der Nichterhältlichkeit umwandelbar in 1 Tag(e) Haft.
Kosten 2.-„
Fast 5 Stunden Taxi fahren…
Das Mandat war bei meiner Mutter abgegeben worden. Der Kommentar meiner Eltern war vorauszusehen. Zwei Bussen innert einer Woche hätten nicht nur mein Budget ganz schön strapaziert…
Das Mandat landete in meinem Studentengesangbuch und da ist es immer noch eingeklebt.
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