(292) Die Hunderter-Note
(In dieser Stafette wirft der nach British Columbia (CAN) ausgewanderte Heinz Tock einen Blick zurück. Die Beiträge “Per Taxi auf Zeitreise durch die Autostadt Biel” hat Heinz Tock als junger Student und Taxifahrer aufgezeichnet).
Verdiente Pause
Freitagnacht. Mitternacht. Die letzten Züge sind angekommen und meine Taxi-Kollegen sind alle weggefahren. Ich bin diesmal leer ausgegangen. Die schweren Gitter am Bahnhof werden geschlossen, die Lichter in der Halle verlöschen.
Ich habe nach einem vollen Arbeitstag als Student am Tech um 18 Uhr meine Nachtschicht angetreten, und eigentlich bin ich um die Pause recht froh. Ich sitze bequem im Auto, trinke meine Ovomaltine und esse mein Sandwich. Morgen Samstag kann ich ja ausschlafen.
Der Mann, der über den ausgestorbenen Bahnhofplatz auf den Taxi-Stand zukommt, setzt einen Fuss überbetont vor den andern und hält sich bolzengerade. Untrüglich: Er hat “einen in der Krone”.
Trinkgeld oder Probleme
Das kann ein anständiges Trinkgeld aber auch Probleme bedeuten. Ich schätze ihn Ende dreissig und er wünscht, nach einem kleinen Ort in der Gegend um Grenchen gefahren zu werden. Dort, im katholischen Kanton Solothurn seien die Bars noch offen.
Ich sage ihm, dass am Mittwoch Aschermittwoch gewesen sei und ich annehme, dass nun, in der Fastenzeit, kaum mehr viel los sei. Er aber besteht auf der Fahrt. Er ist nicht so betrunken, dass ich damit rechnen muss, dass er mir das Auto vollkotzt. Ich müsste es selber reinigen, oder auf meine Kosten reinigen lassen. Also fahren wir.
Am Zielort, ich glaube, es ist Nennigkofen, zahlt er, bittet mich aber, noch zehn Minuten zu warten und ihn, sollte er keine offene Schenke finden, wieder zurückfahren. Er hat ein anständiges Trinkgeld gegeben und ich warte gerne auf ihn. Wenn ein Fahrgast zurückfährt, gehört der Fahrpreis mir, da die Rückfahrt schon bezahlt ist. Dies ist sicher nicht ganz im Sinne des Chefs, aber “wie du mir, so ich dir” (siehe „Fahren mit System” im Teil „Blindfahrt”)!
Der Gast kommt etwas verärgert zurück und steigt ein.
Noch nicht genug
Wieder in Biel will er nun nach Neuenburg fahren. Er wisse dort eine Bar, welche auch in der Freitagnacht bis um vier offen habe. Meine Zweifel kümmern ihn gar nicht.
Mir solls recht sein. Wie ich es vermutet hatte, ist auch im Kanton Neuenburg, dem ehemaligen preussischen Untertanengebiet, alles geschlossen. Stoisch wünscht der Mann, wieder nach Biel zum Bahnhof gefahren zu werden.
Schweizer 100-Franken-Note im Jahr 1956.
Dort drückt er mir als Trinkgeld eine Banknote in die Hand. Erst als ich die Fahrt nach Neuenburg ins Fahrtenbuch eintrage, sehe ich, dass es eine Hundertfrankennote ist. Der Mann ist verschwunden, und das “Trinkgeld” ist völlig abnorm. Ich werde pro Stunde mit Fr. 2.- entlöhnt; Trinkgelder sind also ein wichtiger Bestandteiles meines Lohnes.
Ehrlich währt am längsten
Nach einem inneren Kampf bringe ich die Banknote auf den Polizeiposten. Falls sich keine Besonderheiten ergäben, würde ich die Note nach ein paar Tagen wieder abholen.
Als ich mich ein paar Tage später wieder auf dem Posten melde, erfahre ich, dass eine Frau telefoniert habe und gemeldet hätte, ihr Mann habe zwar seinen Wochenlohn weitgehend verprasst, aber er meine, der Taxifahrer hätte ihn um 100.- “beschissen”. Zur Erinnerung: Ein Arbeiter verdiente Mitte der “Fünfziger” rund 500.- pro Monat.
Man teilte der Frau mit, die Note sei da, der Täxeler werde diese vorbeibringen. Sie sei in Tränen ausgebrochen. Und dasselbe geschieht ihr noch einmal, als ich ihr die Banknote nach Hause bringe. Eine abgehärmte Frau öffnet mir die Tür, und ich gebe ihr die Banknote. Ein Trinkgeld lehne ich ab.
Eigentlich hätte ich ihr noch etwas von meinem Gewinn für die beiden Fahrten zurück nach Biel geben können. Aber als Werkstudent brauchte ich das Geld dringend. Und bei jedem andern Taxi, wo nach Taxameter abgerechnet wird, hätte der Mann ja ohnehin den vollen Betrag bezahlt.
♣
10.12.2008 11:08
Sehr berührend. Danke für den interessanten Einblick in die Vergangenheit.