Heinz Tock
  Seit 1997 mit Ehefrau Marta in British Columbia (CND)

(291) Blindfahrt

(In dieser Stafette wirft der nach British Columbia (CAN) ausgewanderte Heinz Tock einen Blick zurück. Die Beiträge “Per Taxi auf Zeitreise durch die Autostadt Biel” hat Heinz Tock als junger Student und Taxifahrer aufgezeichnet).

In Poleposition

Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung: In den 50-er Jahren hatten die Taxis keinen Funk.

Der Taxistand war am Bahnhof und dort war, aussen am Gebäude, ein Telefon mit einer lauten Klingel angebracht.  Die Taxis standen in einer Schlange und der erste Fahrer nahm entweder das Telefon ab oder lud einen Fahrgast. „Wischen” war verboten. Darunter verstand man die im Ausland absolut übliche Form, sich Fahrgäste zu verschaffen: Man fährt langsam durch die Strassen und per Pfiff oder Handzeichen wird man aufmerksam gemacht. Gerade noch toleriert wurde es, wenn man einen Fahrgast irgendwohin fuhr und dort, am Zielort, ein anderer Fahrgast einstieg.

Fahren mit System

Mein Chef verlangte eine Abrechnung nach Kilometerzähler. Zwar bezahlte der Fahrgast nach Taxameter, aber wir hatten die halben Kilometer jeder Fahrt gemäss Fahrtenbuch abzurechnen und dieses enthielt das Fahrziel, die Zeit und die Distanz. Der Vorteil: Hatte man innerhalb der Stadt mehr als einen Fahrgast - also Tarifstufe 2 - so konnte der Fahrer den Mehrwert behalten. Auch das “Koffergeld” - etwa .-50 pro Gepäckstück, das der Täxeler laden und entladen musste - verblieb uns.

Ausserhalb der Stadt mussten wir den höheren Tarif 3 abrechnen. Der Nachteil: Fahrten, die nicht in Biel begannen oder endeten, z.B. von Mett nach Bözingen, deckten auch bei Tarif 3 kaum die Kosten. Über die Zeit mag sich ein Ausgleich ergeben haben. Jedenfalls waren die Berufstäxeler zufrieden mit dieser Regelung.

Das Schlimmste bei unserem System waren die “Blindfahrten”. Man wurde irgendwohin bestellt und dort war niemand. Diese Fahrten gingen voll zu unseren Lasten. Man tat alles, um diesen Verlust zu vermeiden.

Detektivarbeit

Dienstagnacht, es ist fast schon Sommerferienzeit. Ich kann es mir erlauben, eine Nacht lang zu fahren.

Zudem ist morgen Mittwoch der Nachmittag frei; ich kann dann etwas nachschlafen. Ich stehe am Bahnhof in der “Poleposition”. Das Telefon läutet und ich werde zu einer Adresse am Stadtrand gegen Orpund bestellt. Eine feste Adresse mit Hausnummer. Da sollte eigentlich nichts schief gehen.

Ich fahre dorthin und kann an der angegebenen Strasse die Nummer nicht finden. Ich steige aus und leuchte die Häuser ab. Ich sehe kein Haus, in dem noch Licht wäre und muss meine Niederlage eingestehen. Ich arbeite diese Nacht fast umsonst. Die Fahrt kostet mich über vier Stundenlöhne. Wie ich wieder zurück fahre, erinnere ich mich plötzlich, dass ich beim Orpundplatz ein Taxi der Konkurrenz gekreuzt hatte. Die Firma Urania hatte meiner heutigen Erinnerung nach Renault-Heck Fahrzeuge.

Renault Heck

Renault Heck (Bild: Renaultheck.ch)

Am nächsten Tag fahre ich nach dem Mittagessen in die Stadt zu Urania. Dort gibt man mir bereitwillig den Namen des Taxifahrers, der in der Nacht gegen zwei Uhr eine Fahrt an eine Adresse dort gemacht hatte. Der Mann arbeite tagsüber in einem Kleidergeschäft an der Nidaugasse.

Ich fahre dort hin und melde mich beim Geschäftsführer.

Gerne erlaubt er mir, nachdem ich ihm mein Problem kurz schildere, mit seinem Angestellten zu sprechen. Ja, er habe dort, eben an dieser Strasse zu dieser Zeit einen Fahrgast geladen. An die genaue Hausnummer erinnere er sich aber nicht mehr. Ich frage ihn, ob er noch wisse, wohin der Mann gefahren werden wollte.

An die Schützengasse. Etwa bei den Falbringen. Er beschreibt mir den Mann.

Geständig und reuig

Ich fahre hinauf an die Schützengasse und gehe von Haus zu Haus: „Wohnt hier ein Mann, etwa so und so alt, etwa so und so gross, blonde Haare?” Ich brauche gar nicht viele Häuser abzuklopfen. Eine nette Frau sagt sofort: “Das müsste etwa unser Zimmerherr sein. Ob es irgendwelche Probleme gebe. Nein, nein, wehre ich ab. Ich hätte nur eine wichtige Nachricht für den Mann.” Sie sagt mir, Herr N. arbeite im Farbengeschäft bei der Seelandklinik.

Dorthin begebe ich mich und frage wieder nach dem Geschäftsführer. Ich werde an den Inhaber gewiesen und ihm erzähle ich meine Geschichte. Er ruft Herrn N. und konfrontiert diesen mit meiner Story. Er warnt ihn, dass, falls er tatsächlich meine Probleme verursacht hätte, diese abstreite, und dann der Lüge überführt würde, fristlos entlassen werde. Kleinlaut gibt der Mann den Sachverhalt zu. Er erläutert, dass er bei Freunden gewesen sei und dann ein Taxi bestellt habe. Er habe Adresse und Hausnummer genannt und gerade aufgehängt, als sein Freund ihm zurief, dass er sich in der Hausnumme geirrt habe. Da er wusste, dass ich bereits im Taxi sass und ein anderer Fahrer das Telefon abnehmen würde, beschloss man, ein URANIA-Taxi zu bestellen. Ja, man hätte wohl auf die Strasse gehen können und nach einem Taxi Ausschau halten, aber man habe eben ein wenig getrunken und habe die Sache eher von der lustigen Seite gesehen.

Der Farbenhändler fragt mich, wieviel Herr N. schuldig sei, und wieviel ich in der Stunde verdiene. Dann weist er seinen Angestellten an, mir die Fahrtkosten, zwei Franken pro Stunde “Detektivarbeit” und einen Batzen für den Ärger zu bezahlen. Ich bedanke mich höflich und bitte ihn, bevor ich mich verabschiede, die Sache Herrn N. nicht nachzutragen. Er verspricht es: “Oublié, balayé!”

Als ich dann etwa ein Jahr später dort Farbe kaufe, ist der Angestellte allerdings nicht im Laden. Aber vielleicht ist er ja nur beim Zahnarzt…

Ich frage nicht nach ihm.

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Kommentare

  1. Heinz Rüfli

    09.12.2008 20:11

    Hallo Herr Tock,

    mit grossem Interesse und Bewunderung habe ich Ihre Beiträge über Ihre Auswanderung, aber auch Ihre Zeitreise durch Biel gelesen. Für mich stellt dies auch eine Art Zeitreise dar, denn es wurden angenehme Erinnerungen wach an meine Studienzeit an der Ingenieurschule in Biel. Von 1975-78 hatte ich als Student der Maschinentechnik das Vergnügen Sie als Mathematik Dozent erleben zu dürfen, in sehr positivem Sinne. Ich bin Ihnen bis heute dankbar, dass Sie die damals noch junge Disziplin Informatik (da waren die Lochkarten noch das Mass aller Dinge) in den Mathematik Unterricht integriert und damit mein Interesse geweckt haben. Dies sollte meinen beruflichen Wertegang massgeblich bestimmen, bin ich doch seither in verschiedenen Funktionen in der EDV Branche tätig gewesen, heute als Software Entwickler in der Finanzbranche.

    Wünsche Ihnen und Ihrer Familie weiterhin alles Gute in Ihrer neuen Heimat Kanada.

    Heinz Rüfli
    ein in die Ostschweiz “ausgewanderter“ Seeländer